Vom Auftauchen und Verschwinden

Avantgarde und Entwicklung – das unverständliche Versprechen der Demokratie

Die avantgardistische Pose ist zutiefst demokratisch: Sie verkündet, ein jedes könne KünstlerIn sein, eine jede Hervorbringung welcher Art auch immer sei Kunst. H. C. Artmann formuliert das in der „acht-punkte-proklamation des poetischen actes“ so: „es gibt einen satz, der unangreifbar ist, nämlich der, dass man dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein wort geschrieben oder gesprochen zu haben.“ Beide Momente sind in diesem ersten Satz des Manifests enthalten. Ein jedes (wenn Artmann auch in den 1950ern nur in der männlichen Form spricht, der Logik nach sind alle Menschen gemeint, Frauen wie Männer, Poetinnen wie Poeten) kann Dichter sein, alles kann poetisch sein, ohne überhaupt die sprachliche Form der Dichtung angenommen zu haben.

Ähnlich verhält es sich bei Marcel Duchamps. Ein objet trouvé, ein vorgefundenes, zu fällig anwesendes Objekt, in diesem Fall ein Flaschentrockner, wird signiert und dadurch zum Kunstgegenstand. Es ist derselbe Gedanke: Ein jedes kann alles und jedes zur Kunst machen.

Manchmal wird diese Pose als zerstörerisch betrachtet, weil sie mit den abgegrenzten Disziplinen der Kunstrichtungen und mit der akademischen Ausbildung aufräumt und dies alles durch willkürliche, subjektive Akte ersetzt. Aber ist nicht der subjektive Akt Merkmal der autonomen Existenz bürgerlicher Individuen? Jedenfalls ist der Anspruch, dass alle und ein jedes den eigenen Zugang zur Kunst haben soll, etwas, das auch die politische Avantgarde in ihr Programm aufnimmt und erfüllt. Die sozialdemokratischen Bildungsvereine bringen eine Vielzahl von Arbeiterkünstlern und -künstlerinnen hervor, die persönliche Erfahrung, Authentizität und Autodidaktik in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen Arbeit stellen. Wo die Arbeiterklasse ihr kurzes revolutionäres und staatliches Leben hat, steht der Bildungsgedanke prominent neben der künstlerischen Selbstermächtigung – auch wenn er bürokratische Formen im Zuge der Entwicklung des real existierenden Sozialismus (so die etwas schwerfällige Eigenbezeichnung) annahm.

Es ist zwar ein Unterschied darin zu sehen, ob der künstlerische Bildungs- und oft auch Alfabetisierungsauftrag von staatlicher Stelle erging und bildungshungrige Massen erfasste oder ob vereinzelte bürgerliche Individuen von ihrer Subjektivität auf die Subjektivität aller anderen schlossen. Im zweiten Fall gehen wir von der bekannten Vereinzelung der Individuen in unserer Gesellschaft aus und die avantgardistischen Künstlerinnen und Künstler schreiben die Aufhebung dieser Vereinzelung und Isolierung auf ihr Panier. Es scheint mir aber kein Zufall, dass diese Entwicklungen etwa zeitgleich stattfinden – von der Jahrhundertwende bis in die 1960er Jahre.

Dann verliert sich der revolutionäre Impetus der kommunistischen Parteien wie auch der künstlerischen Avantgarden. Die kurze Revolution 1968 war ohne theoretische Grundlage (sehen wir einmal vom Einzelfall Guy Debord ab, der politische und künstlerische Avantgarde in seinen Schriften noch einmal zu einem kaum beachteten Leben erweckte) und gab mit anarchistischer Freundlichkeit nur einen Ausblick auf die Möglichkeit eines anderen Lebens. Mitten in fordistischer Vollbeschäftigung und einem materiellen Reichtum, der den proletarischen Kriegsgenerationen wohl ungeheuer vorkommen musste, behaupteten die Jungen, dass dies nicht das Leben war, dass es mehr geben müsse als Sicherheit und Wohlstand. Dies wurde nicht von Avantgarde begleitet, sondern musikalisch von Pop und Volkskunst, die als folk firmierte.

Hat es aber auf dem Gebiet der Musik überhaupt jemals so etwas wie Avantgarde mit demokratischer oder zerstörerischer Pose gegeben? Wahrscheinlich nicht in dem Sinne, dass proklamiert wurde, alle und ein jedes könne Musiker oder Komponist werden. Höchstens in den Anfängen des Free Jazz finden sich diese Einstellungen, auch die Verbindung zur politischen Avantgarde, etwa zu Black Power. Musik ist wohl eine zu elaborierte Kunstform. Die Notwendigkeit, Instrumente technisch zu beherrschen, die Notenschrift lesen und anwenden zu können, bietet wenig Spielraum für die Forderung, alle seien KünstlerIn. Diese Forderung scheint mir paradoxerweise schon von Anbeginn des bürgerlichen Musikbetriebs erfüllt zu sein mit den vielfältigen Formen der musikalischen Pädagogik, die zu Haus- und auch Stubenmusik, zu Kammermusik, Volksmusik und natürlich Popmusik führte, die ja das Dilettieren zu eigenen Kunststilen macht wie Punk, Garage, etcet.

Die demokratische Forderung der Avantgarde scheint mir in der bürgerlichen Musik von der Jahrhundertwende bis in die 1960er eher in der theoretisch akademischen Entwicklung zu liegen. So lässt sich Hauers und Schönbergs Zwölftonmusik als demokratisch in dem Sinn interpretieren, dass sie mit den Hierarchien der Töne Schluss macht und zwölf gleichberechtigte Töne in der Oktav behauptet, ohne Dur-moll-System, ohne Funktionsharmonik. Die Gleichberechtigung musikalischer Elemente wird durch die serielle Kompositionstechnik weiter fortgeschrieben. Daneben gibt es avantgardistische Ansätze in der amerikanischen symphonischen Richtung wie etwa bei Charles Yves und John Cage, aber auch dem unterschätzten Frank Zappa, die die Musik aus dem musikalischen Rahmen in den Bereich der Installation führen, wo wieder alles Ausgestellte zur Kunst wird – auch gegen den Hausverstand.